Russlands Wirtschaft leidet unter den Strafmaßnahmen des Westens wohl nicht so stark wie erhofft. Trotzdem werfen sie manche Branchen technologisch weit zurück. Vor allem Putins Armee treffen sie empfindlich.
Russlands Präsident hat eine neue Lieblingsvokabel. Wladimir Putin hat sie aus dem Fundus der kollektiven Erinnerung der Russen an den Zweiten Weltkrieg entlehnt. Einen »ökonomischen Blitzkrieg« nennt er die vom Westen verhängten Sanktionen.
Er betreibt damit auch Erwartungsmanagement: Wenn die Russinnen und Russen glauben, der Kreml wehre den Versuch eines wirtschaftlichen Vernichtungsfeldzugs ab, werden sie über den realen, aber eben nicht totalen Abstieg der russischen Wirtschaft weniger murren. Und der ist immer noch beträchtlich. Laut dem Kreml stehen derzeit bereits allein in der Industrie 230.000 Arbeitsplätze auf dem Spiel. Die Steuereinnahmen sind eingebrochen: Russlands noch zu Jahresbeginn üppiger Haushaltsüberschuss ist über den Sommer fast auf null zusammengeschnurrt.
Zwingen die Sanktionen Moskaus Herrscher doch noch in die Knie, trotz der gigantischen Gewinne aus dem Verkauf von Öl und Gas? Die Einschätzungen zur russischen Volkswirtschaft lagen zuletzt extrem weit auseinander. Die russische Regierung taxiert das zu erwartende Minus auf nur mehr 4,2 Prozent in diesem Jahr, im Frühjahr hatte die Regierung noch mit minus 7,8 Prozent gerechnet. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat seine Prognose für Russland korrigiert, von minus acht Prozent im April auf minus sechs Prozent
. Daten des »Makromonitors« der Moskauer Higher School of Economics deuten darauf hin, dass sich die russische Wirtschaft seit dem Frühjahr stabilisiert hat.
Die Bundesregierung hingegen hat Mitte August noch einmal bestätigt, dass sie mit einem heftigeren Einbruch rechnet. 6 bis 15 Prozent werde der Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts betragen . Zur Einordnung: Um 15 Prozent in einem Jahr war die russische Wirtschaft nicht einmal Anfang der Neunzigerjahre eingebrochen, als die sowjetische Planwirtschaft kollabierte. Welche Prognose ist wahrscheinlicher?
Fest steht: Die im Frühjahr vom Westen verhängten Sanktionen haben auf zwei Arten gewirkt. Zum einen unmittelbar: Bestimmte Güter dürfen nicht mehr gehandelt, Geschäfte mit bestimmten Banken, Unternehmen und Personen nicht mehr abgewickelt werden. Daneben trat die psychologische Wirkung: Die Sanktionen säten Panik und Chaos in Russland und bei Russlands Handelspartnern, weil niemand die Folgen genau abschätzen konnte. Laut Schätzungen der EU unterliegen rund 28 Prozent der europäischen Ausfuhren nach Russland direkt Sanktionen, Russlands Importe aus der EU gingen aber tatsächlich um mehr als 50 Prozent zurück.
Dieser »überschießende Effekt« verliert mit der Zeit an Wucht. Viele Firmen sehen inzwischen klarer, was sie noch dürfen und was nicht. Die erste moralische Empörung im Westen über Unternehmen, die weiter in Russland Geschäfte machen, ist abgeebbt. Die Panik vom Frühjahr ist einer neuen Routine gewichen. Deutschlands Ausfuhren nach Russland sind zuletzt sogar wieder leicht gestiegen.
Wirken die Sanktionen langfristig?
Teile der westlichen Vergeltungsmaßnahmen zielen darauf ab, Russland langfristig von Technologien abzuschneiden. Besonders drastisch hat darunter die russische Automobilfertigung gelitten. Viele westliche Fabriken haben ihre Produktion eingestellt. Auch die Bänder des Lada-Konzerns standen viele Wochen lang still.
Inzwischen hat Lada die Fertigung wieder aufgenommen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Sanktionen wirkungslos waren: Käufer von neuen Fahrzeugen müssen teilweise mit einem deutlich geringeren technischen Stand vorliebnehmen. Die Wagen werden auf absehbare Frist etwa ohne ABS vom Band laufen. Bei 1500 von 4500 Komponenten hat der Konzern keine alternativen Lieferanten gefunden. Zugleich sind die Neuwagenpreise gestiegen: Im Frühjahr kostete das Modell Lada Vesta noch etwa eine Million Rubel, inzwischen werden bis zu drei Millionen Rubel (50.000 Euro) aufgerufen. »Russland wird ärmer und rückständiger«, sagt Janis Kluge, Russlandökonom der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Insgesamt sind die Technologieimporte laut einer Auswertung der finnischen Zentralbank in erheblichem Ausmaß zurückgegangen. Im Maschinenbau sind sie um 41 Prozent geschrumpft, bei Elektronikprodukten um 61 Prozent, bei optischer und medizinischer Ausrüstung um 30 Prozent. Russischen Produzenten gelingt es bislang kaum, die Lücken zu füllen. Eine Analyse des Moskauer Wirtschaftsministeriums beziffert den Rückstand des Landes im Bereich der Mikroelektronik auf 10 bis 15 Jahre. Eine Ausweitung der heimischen Produktion sei schwierig wegen der hohen Kosten und »akutem Mangel an Fachkräften«.
Insgesamt gesehen scheint die Lage derzeit indes weniger dramatisch als erwartet. Experten wie der Moskauer Ökonom Nikolaj Kulbaka oder der inzwischen nach Harvard gewechselte Wirtschaftsprofessor Andrei Jakowlew waren davon ausgegangen, dass die Sanktionen ab Herbst richtig durchschlagen würden – wenn die Lager an kritischen Bauteilen langsam leerlaufen. Mittlerweile räumt Kulbaka ein, er habe sich womöglich »in gewissem Umfang getäuscht« und den »marktwirtschaftlichen Charakter« der russischen Volkswirtschaft unterschätzt, ihre Anpassungsfähigkeit. Es sind zwar viele Zulieferketten gerissen. Die russischen Manager haben jedoch am Weltmarkt Ersatz beschaffen können. »Da arbeitet ein Heer von klugen Leuten an einer Stabilisierung der Lage – und es ist noch unmöglich zu sagen, wie viel Erfolg sie haben könnten«, so SWP-Experte Janis Kluge.
Wie stark ist das Militär betroffen?
Das eigentliche Ziel der Sanktionen sei ohnehin nicht gewesen, die russische Wirtschaft zugrunde zu richten oder gar einen Regimewechsel herbeizuführen, sagt James O’Brien, Sanktionskoordinator des US-Außenministeriums. »Wir wollen Russlands Ressourcen zur Führung imperialer Kriege beschneiden.« Und das gelinge immer besser.
Die Russen »führen einen Krieg wie in den Siebzigerjahren«, sagt O’Brien. »Sie haben keine Luftüberlegenheit, keine effektiven Drohnenfähigkeiten, keine künstliche Intelligenz, keine Zielfindungsausrüstung von militärischer Qualität.« Stattdessen verfügte Putins Truppe über »eine große Menge tumber Haubitzengeschosse«.
Was wiederum mit den Sanktionen zusammenhängt. »Es ist für Russland sehr schwierig geworden, Hochtechnologie zu einem verlässlichen Preis aus verlässlichen Quellen zu bekommen«, sagt O’Brien. Moskau sei inzwischen gezwungen, Militärequipment durch minderwertige Teile aus dem Elektronikmarkt zu ersetzen. »Das sind sicher tolle Basteleien«, lästert der US-Diplomat. »Aber so kann man keinen modernen bewaffneten Konflikt führen.«
Sowohl die Nato als auch die britische Regierung melden, dass Russland zunehmend auf iranische Kampfdrohnen ausweiche. »Russland kauft nahezu sicher immer mehr Waffen von anderen stark sanktionierten Staaten, da sich seine eigenen Lager leeren«, twitterte das britische Verteidigungsministerium. Zuvor hatte Moskau bereits im großen Stil Artilleriemunition in Nordkorea beschafft – ebenfalls keine Präzisionskampfmittel.
Findet Russland neue Quellen?
Die Hoffnung der russischen Wirtschaft, in zivilen Sektoren auf alternative Lieferanten aus Asien auszuweichen, hat sich nicht erfüllt. Ob Taiwan, Japan oder Südkorea, alle haben sich anders als früher den Russlandsanktionen angeschlossen. Selbst China exportiert weniger Güter nach Russland als vor dem Krieg, ebenso wie Indien, Brasilien und Vietnam. Das geht aus Daten der finnischen Zentralbank hervor. Die offiziellen Handelsstatistiken hält Moskau inzwischen unter Verschluss.
Der Kreml setzt daher auf sogenannte »parallele Importe«, also die Einfuhr von Waren über einen Drittstaat ohne Einwilligung des ursprünglichen Verkäufers. Solche Graumarkt-Einfuhren »taugen aber in der Regel nicht für eine große Serienproduktion«, so der Moskauer Ökonom Kulbaka. Die Lieferanten seien stets dem Risiko ausgesetzt, selbst Ziel »sekundärer Sanktionen« des Westens zu werden und hätten kaum Interesse an Lieferungen in großem Umfang und langfristigen Verträgen. Der chinesische Kreditkartenanbieter UnionPay hat deshalb bereits seinen Service in Russland so gut wie eingestellt.
Welche Rolle spielt der starke Rubel?
Die russische Währung verlor Ende Februar zunächst drastisch an Wert. Nach Interventionen der Zentralbank stabilisierte sie sich wieder – und war zuletzt sogar stärker als vor dem Ausbruch der Krise. Der Rubelkurs ist ein wichtiger Faktor zur Beruhigung der eigenen Bevölkerung, die seit den Turbulenzen der Neunzigerjahre gewöhnt ist, regelmäßig die allgegenwärtigen Kursaushänge von Wechselstuben und Banken zu checken. Ein starker Rubel gilt vielen Russen – zu Unrecht – als Beleg dafür, dass die Sanktionen ihrem Land nichts anhaben können.
Immerhin, er »dämpft die Wirkung der Sanktionen«, erklärt SWP-Ökonom Janis Kluge. Der starke Rubel »verbilligt Importe, die für viele Firmen nur noch schwer zu beziehen sind«. Anders gesagt: Müssten russische Firmen für einen Dollar noch wie im März 120 Rubel bezahlen statt den derzeit fälligen 60 Rubel, hätten sie noch größere Probleme, Lieferanten in Asien zu finden.
Ohne den starken Rubel wäre wohl auch die Teuerungsrate in Russland weiter angestiegen. Die Inflation hatte sich in Russland im Juli auf 15 Prozent abgeschwächt.
Wie geht es weiter?
Wirtschaftlich hat sich zwischen dem Westen und Russland ein zäher Abnutzungskampf entwickelt. Das Ziel, Moskau von Technologieimporten abzuschneiden, wurde weitgehend erreicht. Russlands Staatseinnahmen hingegen sprudeln dank hoher Energiepreise munter weiter. Das soll nun der Ölpreisdeckel ändern, auf den sich die G7 geeinigt haben. Würde es den G7 damit gelingen, den Preis für russisches Öl der Sorte Ural auf 60 Dollar zu drücken, würde das Russlands Steuereinnahmen um 33 Prozent drücken, schätzt das Analysehaus Capital Economics, ein Umstand, der das Staatsdefizit auf zwei Prozent des BIP ausweiten könnte .
Das führt nicht notwendigerweise zu einem Crash der Wirtschaft. Je mehr Druck auf den Kreml ausgeübt wird, desto größer die Wahrscheinlichkeit für ein Szenario, in dem Putin die Entwicklung nicht mehr kompensieren und kontrollieren kann. Bislang sei es der russischen Regierung gelungen, weite Teile der Wirtschaft mit Staatsgeld zu stabilisieren, sagt Ökonom Kluge: Das habe etwa bei Lada vorerst Jobs und Gehälter gesichert. Wie schwer genau die Wirtschaft getroffen werde, sei aber noch kaum abschätzbar. Es sei nicht einmal ausgeschlossen, dass die russische Wirtschaft 2023 bereits wieder wachsen werde. Es könne »durchaus auch anders kommen, als wir bislang gedacht haben«.
Bei der Nato hofft man, dass zumindest die Fähigkeit Russlands, Angriffskriege zu führen, langfristig leiden wird. Die Sanktionen zeigten schon jetzt beträchtliche Wirkung, sagt ein ranghoher Nato-Beamter. Er glaubt: »Sie werden einen Schneeballeffekt auf Russlands Fähigkeit haben, nach dem Krieg die Streitkräfte neu aufzubauen.«
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels wurde James O’Brien als US-Botschafter bei der EU bezeichnet. Botschafter O’Brien ist jedoch Sanktionskoordinator des US-Außenministeriums. Wir haben die Stelle entsprechend angepasst.
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