Man wird nicht weiser, man wird nicht gescheiter, man wird älter. Aus – Spiegel – 4.10.2019

»Man wird nicht weiser, man wird nicht gescheiter, man wird älter. Aus.«

SPIEGEL-Gespräch  Mario Adorf ist seit Jahrzehnten einer der beliebtesten Schauspieler Deutschlands. In diesem Jahr wird er 89. Er spricht über sein Handwerk, über die Herausforderung des Alters und über die Liebe.

Mario Adorf er­scheint im Ber­li­ner Bris­tol-Ho­tel in ei­nem dun­kel­blau­en Sak­ko, in dun­kel­blau­er Hose. Sei­ne Haut ist leicht ge­bräunt. Er ist auf­ge­räum­ter Stim­mung. Vor Kur­zem ist ein Buch über sein Le­ben er­schie­nen (»Zu­ga­be!«), zu­dem hat­te ein neu­er Do­ku­men­tar­film über ihn Pre­mie­re, mit dem la­ko­nisch-ent­spann­ten Ti­tel »Es hät­te schlim­mer kom­men kön­nen« (Ki­no­start: 7. No­vem­ber).

Adorf ist seit 33 Jah­ren in zwei­ter Ehe mit Mo­ni­que ver­hei­ra­tet, ei­ner Fran­zö­sin. Er hat drei Wohn­sit­ze, ei­nen in Mün­chen, ei­nen in Pa­ris, ei­nen in Saint-Tro­pez. Ge­bo­ren wur­de er in Zü­rich, als un­ehe­li­ches Kind ei­ner el­säs­si­schen Rönt­ge­n­as­sis­ten­tin und ei­nes ita­lie­ni­schen Arz­tes, auf­ge­wach­sen ist er in May­en in der Ei­fel. Weil sei­ne Mut­ter als Nä­he­rin ar­bei­te­te, leb­te er meh­re­re Jah­re lang in ei­nem ka­tho­li­schen Wai­sen­haus. Er spiel­te am Thea­ter, hat mehr als 200 Film- und Fern­seh­rol­len über­nom­men, die be­kann­tes­ten sind der Va­ter Mat­z­er­ath in der »Blech­trom­mel«, der »gro­ße Bell­heim« und der Kleb­stoff­fa­bri­kant Haf­fen­lo­her in »Kir Roy­al« (»Ich scheiß dich so was von zu mit mei­nem Geld«). In dem Ge­spräch soll es dar­um ge­hen, was bleibt. Im Mai geht Adorf noch ein­mal auf Tour, das Pro­gramm heißt »Zu­ga­be« und ist eine Art Ab­schieds­tour­nee.

SPIEGEL: Herr Adorf, wie sind Sie heu­te Mor­gen auf­ge­wacht – mit Vor­freu­de auf den Tag?

Adorf: Na ja, ich wür­de sa­gen, wie im­mer. Ich ju­be­le nicht und sage: Ah, Gott sei Dank, ich lebe noch. Ich ge­hö­re nicht zu die­sen Se­nio­ren­jublern. Das fin­de ich meis­tens lä­cher­lich, auf­ge­setzt und falsch. Ich ste­he auf, ohne ein wirk­li­cher Muf­fel zu sein.

SPIEGEL: Füh­len Sie sich alt?

Eine ein­zig­ar­ti­ge Kar­rie­re

Fo­to­stre­cke Ma­rio Adorf hat in mehr als 200 Fil­men mit­ge­spielt, fast alle wich­ti­gen deut­schen Schau­spiel­prei­se ge­won­nen und war da­bei stets ein be­son­de­rer Fa­vo­rit des Pu­bli­kums. Se­hen Sie hier ei­ni­ge Sta­tio­nen die­ser ein­zig­ar­ti­gen Kar­rie­re.

Adorf: Es kommt jetzt im­mer häu­fi­ger vor, dass die an­de­ren mich be­han­deln wie ei­nen al­ten Mann. Das stört mich schon ein biss­chen. Dass ich eine Stu­fe nicht sähe und die mir ir­gend­wie hel­fen wol­len.

SPIEGEL: Was ist Ihr ge­fühl­tes Al­ter?

Adorf: Ich wür­de das jetzt nicht fest­le­gen wol­len, ob ich mich wie 50 füh­le oder wie 60. Ich bin iden­tisch mit mir sel­ber. Man wird alt, aber man merkt es sel­ber nicht.

SPIEGEL: Ha­ben Sie sich das Al­ter so vor­ge­stellt?

Adorf: Ein biss­chen er­staunt bin ich schon, wie es sich an­fühlt. Als ich jung war, da woll­te ich das Jahr 2000 er­rei­chen. Ich bin 1930 ge­bo­ren und dach­te, wenn du 70 wirst, das ist schon was. Und dann sind es 80 Jah­re ge­wor­den und jetzt noch mehr.

SPIEGEL: Ge­hen Sie noch zu Fuß zum Ein­kau­fen?

Adorf: Ja. Ich neh­me dazu die­sen Wa­gen mit Ta­sche, da habe ich über­haupt kein Pro­blem. Die Leu­te wun­dern sich dann.

SPIEGEL: Schwim­men Sie noch?

Adorf: So oft ich kann. Vor al­lem im Meer. Es wird aber we­ni­ger. Frü­her bin ich eine Stun­de ge­schwom­men. Dann eine hal­be. Dann noch 20 Mi­nu­ten. Jetzt ist es noch eine Vier­tel­stun­de.

SPIEGEL: Wird der Kör­per we­ni­ger?

Adorf: Die Mus­kel­kraft schwin­det. Aber die Mus­keln sind ko­mi­scher­wei­se noch da. Ich habe nicht das Ge­fühl, dass mei­ne Ober­schen­kel we­ni­ger ge­wor­den sind. Die sind im­mer noch mus­ku­lös, aber sie leis­ten nicht mehr das­sel­be wie frü­her.

SPIEGEL: Wer­den die Mit­men­schen ei­nem mit zu­neh­men­dem Al­ter läs­tig?

Adorf: Also läs­tig wer­den mir die Leu­te nicht. Ich neh­me auch das Au­to­gram­me­schrei­ben als schö­ne Pflicht auf mich. Es gibt Din­ge, die ich im­mer so ge­hal­ten habe: höf­lich zu sein etwa ge­gen­über den Men­schen, die ei­nen mö­gen, die ins Kino ge­hen oder ins Thea­ter und da­für Geld be­zah­len.

SPIEGEL: Es gibt ei­nen neu­en Film über Sie, eine Bio­gra­fie. Fin­den Sie das an­ge­mes­sen?

Adorf: Ich wäre nie auf die Idee ge­kom­men, ei­nen sol­chen Film zu ma­chen. Man hat mich ge­fragt.

SPIEGEL: Gibt es Din­ge, die im Al­ter ver­blas­sen? Na­men, Ge­sich­ter, Text­zei­len?

Dar­stel­ler Adorf in »Die Blech­trom­mel« (1979)

Adorf: Mein Lang­zeit­ge­dächt­nis ist re­la­tiv un­be­schä­digt. Ich ma­che mei­ne Er­in­ne­run­gen an mei­ner Ar­beit fest, an mei­nen Fil­men. 53, 58, 69, 85, ich weiß im­mer ge­nau, was ich in den Jah­ren ge­dreht habe.

SPIEGEL: Sie ha­ben be­schrie­ben, dass Ihre Mut­ter ge­ar­bei­tet hat, wäh­rend Sie oben in der Man­sar­de auf sie ge­war­tet ha­ben.

Adorf: Ich war ja die ers­ten Jah­re mit ihr in ei­nem Zim­mer zu­sam­men, wo sie nachts näh­te und wo ich auf der ge­mein­sa­men Couch schlief; es gab kein Bett.

SPIEGEL: Kann man sich mit 88 noch an sei­ne Kind­heit er­in­nern?

Adorf: Je wei­ter sie zu­rück­liegt, des­to ge­nau­er blei­ben die Er­in­ne­run­gen da. Ge­ra­de aus der Kind­heit sind das ganz klei­ne Din­ge, die mich be­ein­druckt ha­ben. Ich weiß ganz ge­nau, was mei­ne ers­te Er­in­ne­rung ist und was mei­ne zwei­te.

SPIEGEL: Wel­ches ist die ers­te?

Adorf: Ich sit­ze auf dem Topf, auf dem Nacht­topf, und be­ob­ach­te die Leu­te um mich her­um. Eine an­de­re Er­in­ne­rung: als ich vom Tod Hin­den­burgs er­fuhr. Da wur­den die Na­zi­flag­gen auf Halb­mast ge­setzt, das hat mich ge­wun­dert.

SPIEGEL: Da wa­ren Sie knapp vier.

Adorf: Ich glau­be, es war im Au­gust. Da habe ich ge­fragt, was ist da los? War­um sind die Flag­gen auf Halb­mast? Oder mein ers­ter Thea­ter­auf­tritt, wo ich den sieb­ten Zwerg spiel­te. Ich trug eine rote Zip­fel­müt­ze und ei­nen aus Ver­bands­wat­te ge­kleb­ten Bart. Ich soll­te ei­gent­lich nur da­sit­zen und mit ei­ner Ket­te spie­len. Auf ein­mal kam mir die­ser Bart in den Mund. Und in die Nase. Ich habe ge­weint, weil ich glaub­te zu er­sti­cken.

SPIEGEL: Als die Syn­ago­gen brann­ten, wa­ren Sie acht.

Adorf: Die Syn­ago­ge brann­te am Abend und in der Nacht. Ich war da­mals im Wai­sen­haus. Ich stand im Schlaf­saal, am Fens­ter, wir Kin­der hät­ten die­sen Brand na­tür­lich gern ge­se­hen. Wir wa­ren neu­gie­rig. Am nächs­ten Mor­gen gin­gen die an­de­ren alle zur Schu­le. Die Saal­schwes­ter, die mich sehr moch­te, kam zu mir, leg­te mir die Hand auf die Stirn und sag­te: Du gehst mir heu­te nicht in die Schu­le, du hast Fie­ber. Dann habe ich mit der Schwes­ter be­ob­ach­tet, wie un­ten, aus dem Ge­fäng­nis ge­gen­über, die meist al­ten Leu­te auf Last­wa­gen ge­la­den wur­den. Die Schwes­ter zog ein Ta­schen­tuch aus dem Ärmel und wein­te. Ich habe ge­fragt: Was sind das für Leu­te? Sie sag­te, das sind Ju­den. Und ich frag­te: Was ha­ben die denn ver­bro­chen? Dass sie Ju­den sind, sag­te sie. Am Mit­tag ka­men mei­ne Ka­me­ra­den aus der Schu­le zu­rück. Sie rie­fen: Guck mal hier, wir ha­ben Ka­mel­len und Scho­ko­la­de aus den Ju­den­ge­schäf­ten. Wenn ich in die Schu­le ge­gan­gen wäre, wäre ich mit­ge­gan­gen und hät­te das Glei­che ge­macht.

SPIEGEL: Ih­ren Va­ter kann­ten Sie bis da­hin nicht. Hat­ten Sie Sehn­sucht nach ihm?

Adorf: Über­haupt nicht. Er war ab­we­send, es gab ihn nicht. Die meis­ten Vä­ter wa­ren ja weg. Ich hat­te nicht das Ge­fühl, dass ich der Ein­zi­ge ohne Va­ter war. Ich habe ihn dann ja spä­ter ge­trof­fen, als ich nach Ita­li­en fuhr, weil ich Geld brauch­te. Ich war ein­ge­la­den, am Stu­den­ten­thea­ter in Zü­rich mit­zu­spie­len, und woll­te dort wei­ter­stu­die­ren. Dazu muss­te ich ei­nen Scheck vor­wei­sen, um mich im­ma­tri­ku­lie­ren zu kön­nen. Die Schwes­ter mei­ner Mut­ter riet mir: Geh doch mal zu dei­nem Va­ter. Der hat doch bis­her nie et­was be­zahlt.

SPIEGEL: Wie lang war die Be­geg­nung?

Adorf: Zehn Mi­nu­ten. Es lag auch dar­an, dass ich da­mals nicht Ita­lie­nisch sprach, nur ein paar Bro­cken. Und er kein Deutsch.

SPIEGEL: Sie spra­chen nur über Geld?

»Der gro­ße Bell­heim« (1993)

Adorf: Mei­ne Tan­te hat­te mir ei­nen Brief ge­schrie­ben, an ihn ge­rich­tet, in dem sie mei­ne Si­tua­ti­on er­klär­te. Er las den und sag­te auf Ita­lie­nisch: »È Lei?« – »Sind Sie das?« Dann stand er auf, ging raus, zehn Mi­nu­ten spä­ter kam er mit ei­nem Zet­tel zu­rück, mit der Adres­se sei­nes Schwa­gers, ei­nem An­walt. Der ma­che das Ge­schäft­li­che. Ar­ri­ve­der­ci! Ich war ent­las­sen.

SPIEGEL: Wie­so sind Sie Schau­spie­ler ge­wor­den?

Adorf: Weil ich nichts an­de­res wer­den konn­te. Man hat­te da­mals nach dem Krieg kei­ne Wahl. Ich hät­te gern Me­di­zin stu­diert. Aber es war völ­lig il­lu­so­risch, es gab den Nu­me­rus clau­sus; also konn­te ich ei­gent­lich nur Schau­spie­ler wer­den.

SPIEGEL: Ein paar an­de­re Be­ru­fe hät­te es ja schon noch ge­ge­ben.

Adorf: Um ehr­lich zu sein: Der An­lass, war­um ich mich über­haupt für die Uni-Stu­den­ten­büh­ne in­ter­es­sier­te, war eine Kom-

mi­li­to­nin, die dort eine gro­ße Rol­le spiel­te. Die ver­ehr­te ich. Das war der Grund, war­um ich mich in die­se Trup­pe ein­ge­schli­chen hat­te. Ich hat­te Büh­nen­bil­der ent­wor­fen, Pla­ka­te ge­malt und so­gar die Schau­spie­ler ge­schminkt.

SPIEGEL: Eine Mi­schung also aus Al­ter­na­tiv­lo­sig­keit und Zu­fall?

Adorf: In der Auf­nah­me­prü­fung zur Schau­spiel­schu­le wur­de na­tür­lich auch ge­fragt: War­um wol­len Sie Schau­spie­ler wer­den? Ich habe der Kom­mis­si­on ge­sagt, ich möch­te gern mög­lichst schnell Geld ver­die­nen. Ich hat­te ja vor­her ma­locht, am Bau und in den Bims­gru­ben im Rhein­land. Ich dach­te, das könn­te noch ein biss­chen ein­fa­cher ge­hen.

SPIEGEL: Sie ha­ben vie­le Rol­len ge­spielt, die je­der kennt. Auf wel­che schau­spie­le­ri­sche Leis­tung sind Sie am meis­ten stolz?

Adorf: Stolz? Habe ich nie emp­fun­den. Es gibt ein paar Rol­len, da sage ich: Die sind ge­lun­gen. Für mich ist die Schau­spie­le­rei erst mal eine lust­vol­le Be­schäf­ti­gung. Aber sie ist auch Ar­beit. Das ist mein Hand­werk. Ich habe nichts an­de­res ge­lernt.

SPIEGEL: Ist das Al­tern am Ende auch nur eine Rol­le, die man dis­zi­pli­niert und tech­nisch sau­ber spie­len muss?

Adorf: Ich den­ke nicht: Jetzt bist du alt. Oder jetzt müss­test du die­se oder jene Er­fah­rung ha­ben. Ich wer­de oft ge­fragt: Sind Sie wei­se ge­wor­den? Dann sage ich, ich weiß gar nicht, was das ist, wei­se. Man wird nicht wei­ser, man wird nicht ge­schei­ter, man wird äl­ter. Aus.

SPIEGEL: Ha­ben Sie je­mals im Le­ben um et­was kämp­fen müs­sen?

Adorf: Das Wort kämp­fen habe ich im­mer ver­mie­den. Es gibt An­stren­gun­gen, die ich un­ter­nom­men habe. Aber ich muss­te nie kämp­fen. Ich bin auch im Sport nie ei­ner ge­we­sen, der ge­sagt hat: schnel­ler, hö­her, wei­ter. Die­sen Ehr­geiz hat­te ich nicht. Gute Ar­beit ma­chen, das woll­te ich.

SPIEGEL: Ha­ben Sie ein Ri­tu­al, be­vor Sie auf die Büh­ne ge­hen?

Adorf: Es gibt na­tür­lich im Schau­spie­ler­le­ben Re­geln, an die man sich hält. Man nimmt den Hut ab, wenn man über die Büh­ne geht. Man pfeift nicht in der Gar­de­ro­be. Es gibt vie­le Re­geln in dem Be­ruf, die manch­mal un­sin­nig schei­nen. Aber man be­folgt sie. Weil sie wie ein Kor­sett sind, eine Hil­fe.

Kir Roy­al« (1986)

SPIEGEL: Ihr Pro­gramm heißt »Zu­ga­be«. Wor­um geht es?

Adorf: Es ist im Grun­de das, was ich im­mer ge­macht habe. Im Mu­sik­be­reich wür­de man sa­gen: Best of. Es ist eine Ver­beu­gung vor dem Pu­bli­kum, dem letz­ten, das ich live er­le­be.

SPIEGEL: Sie ha­ben ge­ra­de den Fern­seh­film »Alte Ban­de« ge­dreht. Ent­de­cken Sie beim Spie­len noch et­was Neu­es?

Adorf: Ei­gent­lich nicht. Es ist ein biss­chen der nai­ve Ver­such, eine Al­tersak­ti­vi­tät zu ze­le­brie­ren. Ich spie­le je­man­den, der so tut, als könn­te er noch bo­xen. Ich weiß auch nicht, wie das an­kom­men wird.

SPIEGEL: Geht es in der Schau­spie­le­rei nicht ge­nau dar­um: je­man­den zu spie­len, der man nicht ist?

Adorf: Auf je­den Fall. Ich habe nie mich sel­ber spie­len wol­len. Es gibt ja Leu­te, die nur sich sel­ber spie­len kön­nen. Man­fred Krug hat mir das mal ge­stan­den. Bei mir war es im­mer so, dass ich Rol­len spiel­te, um mich von mir zu ent­fer­nen. Das heißt auch: Ich habe mich be­rei­chern wol­len an den Rol­len. An an­de­ren Per­sön­lich­kei­ten. Das ist das Loh­nen­de für ei­nen Schau­spie­ler.

SPIEGEL: Heißt Spie­len im Al­ter: Re­duk­ti­on?

Adorf: Oft sagt man: Der gro­ße Schau­spie­ler, der macht gar nichts. Was heißt das? Er macht nicht gar nichts, son­dern er lässt ein­fach das Über­flüs­si­ge weg.

SPIEGEL: Die Be­grün­dung, mit der man Sie auf der Schau­spiel­schu­le auf­nahm, 1953, lau­te­te: Sie hät­ten »Kraft und Nai­vi­tät«. Füh­len Sie sich ge­recht be­ur­teilt?

Adorf: Da­mals schon. Ich bin beim Vor­spie­len, kraft­voll, in den Zu­schau­er­raum ge­stürzt, weil die Büh­ne so klein war. Und dass ich so naiv sein konn­te, eine für mich gar nicht ge­eig­ne­te Rol­le zu wäh­len – ich sehe es heu­te eher als iro­ni­sche Be­mer­kung.

SPIEGEL: Sie sa­gen auch von sich: Ich will gar nicht wis­sen, wie ich funk­tio­nie­re, wie ich ge­macht bin. Ich bin’s ein­fach.

Adorf: Ich woll­te nie Rou­ti­ne. Der Schau­spie­ler Ru­dolf Plat­te hat mir mal ge­sagt: Bei 400 Vor­stel­lun­gen fäng­t’s bei mir über­haupt erst an. Bei 400 Vor­stel­lun­gen? Ich lang­wei­le mich nach 20. Des­we­gen habe ich ohne gro­ßes Be­dau­ern mit dem Thea­ter­spie­len auf­ge­hört, vor 15 Jah­ren.

SPIEGEL: Sie wa­ren als jun­ger Mann ein sehr kör­per­li­cher Schau­spie­ler. War das auch Kraft­meie­rei?

Adorf: Ich war ja nie ein Schwar­ze­negger, ich war kein Mus­kel­mann. Aber ich habe die Kör­per­lich­keit schon be­dient. Doch kraft­meie­risch? Es gab ein paar Rol­len, bei de­nen man ge­sagt hat: Jetzt hau mal auf die Pau­ke. Was ich dann wie­der ab­ge­legt habe, weil es mir nicht ge­fiel.

SPIEGEL: Ein­mal ha­ben Sie sich beim Dre­hen an ein fah­ren­des Auto ge­klam­mert. Da­für muss­ten Sie doch trai­niert sein.

Adorf: Ich war in ei­ner re­la­tiv gu­ten phy­si­schen Kon­di­ti­on, durch ver­schie­de­ne Sport­ar­ten. Ich habe aber im­mer ge­wusst, wo mei­ne Gren­zen la­gen.

Adorf-Fa­mi­li­en­bild mit Mut­ter Ali­ce 1933

SPIEGEL: Ab dem wie­viel­ten Take ei­ner Sze­ne wer­den Sie un­ge­hal­ten?

Adorf: Ich war im Grun­de im­mer ein folg­sa­mer Schau­spie­ler. Wenn der Re­gis­seur sagt, ich will es zwan­zig­mal, dann habe ich es zwan­zig­mal ge­macht.

SPIEGEL: Kann man mit 88 noch ver­liebt sein?

Adorf: Ich glau­be, dass das Ver­liebt­sein eine sehr ju­gend­li­che An­ge­le­gen­heit ist. Sie ver­liert sich.

SPIEGEL: Wann un­ge­fähr?

Adorf: Sehr schnell.

SPIEGEL: Um 50 her­um?

Adorf: Viel frü­her. Ver­liebt­heit gibt es nur in der Ju­gend. Ein paar Rück­fäl­le, ja si­cher.

SPIEGEL: Wie nen­nen Sie Lie­be im Al­ter? Be­wun­de­rung? Kon­ti­nui­tät?

Adorf: Ver­trau­en. Ver­läss­lich­keit. Zu­nei­gung. Zu-Nei­gung: dass man je­man­dem zu­ge­neigt ist. Und bleibt. Was also heißt, dass man sich nicht ent­fernt von je­man­dem. Das Ge­fühl der Zu­sam­men­ge­hö­rig­keit. Das Ende des Zwist-Da­seins. Des Wi­der­stands. Wenn man nicht mehr ge­gen­ein­an­der­steht, son­dern merkt, wie man ne­ben­ein­an­der­steht. Und Zärt­lich­keit. Die muss nicht ab­neh­men, viel­leicht so­gar zu­neh­men.

SPIEGEL: Sie ha­ben Ihre Freun­din Mo­ni­que erst nach fast 18 ge­mein­sa­men Jah­ren ge­hei­ra­tet.

Adorf: Das fand ich auch ganz gut. Es war un­se­re Ju­gend, in der wir noch aus­pro­bier­ten. Bei­de.

SPIEGEL: Ha­ben Sie ge­war­tet, bis die Ver­liebt­heit weg und die Lie­be da ist?

Adorf: Die Ver­liebt­heit war si­cher nach ein paar Jah­ren nicht mehr da. Aber das Ge­fühl, der Glau­be, dass man zu­sam­men­ge­hört – dass es die Rich­ti­ge ist; dass man nicht mehr su­chen muss –, das gib­t’s dann schon.

SPIEGEL: Wenn Sie eine Frau wä­ren: Wä­ren Sie gern mit sich selbst ver­hei­ra­tet?

Adorf: Das weiß ich jetzt nicht. (Pau­se) Mei­ne Frau ist zu­frie­den, glau­be ich.

Fa­mi­li­en­bild mit ers­ter Ehe­frau Lis Ver­hoeven, Toch­ter Stel­la Adorf um 1970

SPIEGEL: Macht eine Af­fä­re glück­lich? Oder eher trau­rig?

Adorf: Ich sage nicht, dass die Ver­su­chun­gen nicht da wa­ren. Aber dass man sich über die Ehe hin­weg­setzt? Nein, da hat man schon eine ge­wis­se Ver­ant­wor­tung. Auch vor sich sel­ber.

SPIEGEL: Für Sie heißt Ehe eben: Ehe.

Adorf: Ich neh­me sie zu­min­dest ernst. Die jun­gen Paa­re las­sen sich heu­te sehr oft sehr schnell schei­den. Ich habe im­mer ge­sagt: Nach dem ers­ten Sei­ten­sprung fängt eine Be­zie­hung erst an, und man soll­te den­ken: Viel­leicht habe ich was falsch ge­macht.

SPIEGEL: Gibt es, aus Ih­rer Zeit vor der Ehe, Ver­füh­rungs­tricks, die im­mer funk­tio­niert ha­ben?

Adorf: Eher nicht. Es pas­siert halt. Was sel­ten war üb­ri­gens.

SPIEGEL: Emp­fin­den Sie es als Er­leich­te­rung, dass es mit dem Sex im Al­ter ir­gend­wann we­ni­ger wird?

Adorf: Das ist nun mal so. Ich bin kei­ner, der sagt, das darf doch nicht wahr sein, und dann zu Via­gra greift. Es wird we­ni­ger und we­ni­ger und hört auf. Das ver­ur­sacht bei mir kei­ne De­pres­sio­nen.

SPIEGEL: Sie sind mit Ih­rer Frau seit mehr als drei Jahr­zehn­ten ver­hei­ra­tet. Wer hat im Al­ter mehr von wem ge­lernt?

Adorf: Der ge­gen­sei­ti­ge Ein­fluss ist gar nicht so groß.

SPIEGEL: Man al­tert eher al­lein?

Adorf: Man al­tert zu­sam­men, aber man kom­mu­ni­ziert nicht lau­fend über das Al­ter. Ein biss­chen viel­leicht, wenn mei­ne Frau sagt: Halt dich ge­ra­de! Aber dass man rich­tig ein­greift in das Le­ben des an­de­ren – nein.

SPIEGEL: Sie ha­ben ja ein paar Se­mes­ter Phi­lo­so­phie stu­diert. Ha­ben Sie her­aus­ge­fun­den, was das Le­ben von uns will?

Adorf: Wenn wir uns als Teil der Schöp­fung se­hen – dann wür­de ich sa­gen, wir ha­ben ei­nen Schöp­fungs­auf­trag: Le­ben er­hal­ten, Le­ben wei­ter­ge­ben. Wenn wir uns aber als Mit­glied ei­ner Ge­mein­schaft se­hen, dann ver­langt das Le­ben, das Le­ben mit­ein­an­der, dass wir Re­geln ein­hal­ten. Und dann gib­t’s ja noch die an­de­re Sei­te: Was wol­len wir vom Le­ben?

SPIEGEL: Was macht Sie glück­lich?

Adorf: Was man als Glück be­zeich­nen könn­te, wird im Al­ter we­ni­ger. Man ist dann mit »Glück­chen«, also mit klei­nen Glücks­mo­men­ten, zu­frie­den.

Mit Part­ne­rin -Mo­ni­que 1985

SPIEGEL: Wel­che sind das?

Adorf: Ir­gend­je­mand hat ge­sagt: gu­ter Schlaf und gute Ver­dau­ung.

SPIEGEL: Wie ist das Ver­hält­nis zu Ih­rer Toch­ter?

Adorf: Sehr gut. Wir se­hen uns oft. Ich habe ei­nen En­kel.

SPIEGEL: Sie wa­ren viel un­ter­wegs, auch als Sie schon eine Fa­mi­lie hat­ten.

Adorf: Ich bin viel­leicht auch kein gu­ter Va­ter ge­we­sen. Ob­wohl Stel­la das be­strei­tet. Ich war ein ab­we­sen­der Va­ter.

SPIEGEL: Wür­den Sie Ihr Le­ben als satt be­zeich­nen?

Adorf: Satt fin­de ich schreck­lich. Ich möch­te nicht satt sein. Satt kommt ja vom La­tei­ni­schen: sa­tis, das heißt ge­nü­gend. Sa­tis, ja. Aber satt nicht. Satt ist mir zu voll­ge­fres­sen.

SPIEGEL: Geht man leich­ter, wenn das Le­ben ge­nü­gend war?

Adorf: Dar­an den­ke ich im Mo­ment nicht.

SPIEGEL: Sie den­ken nicht an den Tod?

Adorf: Ich den­ke an den Tod, na­tür­lich. Er ist für mich un­aus­weich­lich. Aber für mich ist der Tod eine Tat­sa­che. Wor­über man sich Ge­dan­ken macht, ist das Ster­ben. Wie ster­be ich?

SPIEGEL: Wie oft am Tag?

Adorf: Manch­mal oft, manch­mal gar nicht. Ich den­ke an das Ster­ben mei­ner Mut­ter, das sehr schwer war. Da den­ke ich dann: Hof­fent­lich pas­siert dir das nicht. Ein Le­ben im Roll­stuhl, eine schwe­re Krank­heit.

SPIEGEL: Und im All­tag? Es gibt Din­ge, die tun Sie zum letz­ten Mal.

Adorf: Ich habe mal ei­nen klei­nen Auf­satz ge­schrie­ben, »Das letz­te Mal«. Das ist der An­fang mei­nes Pro­gramms »Zu­ga­be«. Die­ser Ge­dan­ke, viel­leicht wirst du das nicht mehr er­le­ben, kommt erst im Al­ter. Als ich vor ei­nem Jahr in Ca­pri war, da dach­te ich: Hier wirst du jetzt nicht wie­der hin­kom­men. Ich habe an ein Buch ge­dacht, das ich mal sehr moch­te, von Ita­lo Sve­vo: »Ze­nos Ge­wis­sen«. Die­ser Zeno will sich auf An­ra­ten des Arz­tes das Rau­chen ab­ge­wöh­nen. Da es ihm of­fen­bar nicht ge­lingt, schreibt er im­mer wie­der in sein Ta­ge­buch: »L.Z.«, »Letz­te Zi­ga­ret­te«. Und er sagt dann: Das Ge­fühl, dass die­se letz­te Zi­ga­ret­te die letz­te ist, macht sie be­son­ders in­ten­siv. In Ca­pri habe ich die­sen letz­ten Auf­ent­halt als be­son­ders emp­fun­den, weil ich al­les vor­mals Er­leb­te viel be­wuss­ter ge­nos­sen habe.

 

Künst­ler Adorf nach dem Ge­spräch in Ber­lin: »Halt dich ge­ra­de!«

SPIEGEL: Wie viel Ih­rer Zeit ist Rück­schau?

Adorf: Ich hat­te im­mer was da­ge­gen, zu­rück­zu­schau­en und nach­zu­den­ken und mich zu er­in­nern. Ich woll­te kei­ne al­ten Fil­me von mir se­hen. Ich war nie zu­rück­ge­wandt. Im­mer nach vorn; wei­ter. Gut, das Nach­vorn­schau­en ist jetzt auf eine sehr kur­ze Dis­tanz be­schränkt.

SPIEGEL: Wie viel Zeit ver­brin­gen Sie da­mit, Plä­ne zu ma­chen?

Adorf: Das habe ich noch nie ge­macht. Es gibt Pia­nis­ten, die fünf Jah­re vor­her wis­sen, dass sie am 5. April in Bue­nos Ai­res die »Ap­pas­sio­na­ta« spie­len – ich habe nie ge­plant, auch frü­her nicht. Ich habe im­mer ge­dacht, dass wir nicht so viel Ein­fluss ha­ben auf un­ser Le­ben, wie wir den­ken. Das Le­ben macht das schon. Mit uns, nicht um­ge­kehrt.

SPIEGEL: Gibt es nie Frust?

Adorf: Was ich nicht mag, da­von habe ich sehr ge­naue Vor­stel­lun­gen. Aber dass es zum Frust, zur Be­las­tung wird: nein.

SPIEGEL: Gibt es ei­nen Ort, an dem Sie be­er­digt wer­den wol­len? Saint-Tro­pez? Ita­li­en?

Adorf: Mir per­sön­lich ist das egal. Mei­ne Mut­ter woll­te eine See­be­stat­tung. Ich sel­ber fand das im­mer eine ganz gute Op­ti­on, ich glau­be an nichts nach­her. In mei­ner Hei­mat­stadt bin ich Eh­ren­bür­ger, die wür­den mir si­cher ein schö­nes Grab her­rich­ten. In Saint-Tro­pez ist ein sehr schö­ner Fried­hof am Meer, aber der ist so be­setzt, dass man da gar kei­nen Platz fin­det. Zu­letzt wur­de mir an­ge­deu­tet, dass Mün­chen ge­nau das Rich­ti­ge für mich wäre – der Bo­gen­hau­se­ner Fried­hof, wo vie­le mei­ner Kol­le­gen lie­gen.

SPIEGEL: Für Sie ist der Tod: Licht aus?

Adorf: Ende.

SPIEGEL: Ha­ben Sie sich bis heu­te et­was Ei­fel­bau­ern­haf­tes be­wahrt?

Adorf: Frü­her, wahr­schein­lich von mei­ner Mut­ter stam­mend, gab es den Grund­satz: Auf dem Bo­den blei­ben. Und sich nicht zu wich­tig neh­men. Wich­tig schon, aber nicht zu wich­tig. Was mei­ne Her­kunft, mein Her­kom­men an­geht, da spielt Süd­ita­li­en gar kei­ne Rol­le, ob­wohl ich ver­sucht habe, Ita­lie­ner zu wer­den. Ich habe 40 Jah­re in Ita­li­en ge­lebt. Aber das ist mir nie ge­lun­gen. Für mich ist es im­mer die Ei­fel ge­blie­ben.

SPIEGEL: Was bleibt?

Adorf: Staub.

SPIEGEL: Herr Adorf, wir dan­ken Ih­nen für die­ses Ge­spräch.

Das Ge­spräch führ­ten die Re­dak­teu­re Hau­ke Goos und Bar­ba­ra Har­ding­haus.

Fuente: https://magazin.spiegel.de/SP/2019/18/163618659/index.html

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