»Man wird nicht weiser, man wird nicht gescheiter, man wird älter. Aus.«
SPIEGEL-Gespräch Mario Adorf ist seit Jahrzehnten einer der beliebtesten Schauspieler Deutschlands. In diesem Jahr wird er 89. Er spricht über sein Handwerk, über die Herausforderung des Alters und über die Liebe.
Mario Adorf erscheint im Berliner Bristol-Hotel in einem dunkelblauen Sakko, in dunkelblauer Hose. Seine Haut ist leicht gebräunt. Er ist aufgeräumter Stimmung. Vor Kurzem ist ein Buch über sein Leben erschienen (»Zugabe!«), zudem hatte ein neuer Dokumentarfilm über ihn Premiere, mit dem lakonisch-entspannten Titel »Es hätte schlimmer kommen können« (Kinostart: 7. November).
Adorf ist seit 33 Jahren in zweiter Ehe mit Monique verheiratet, einer Französin. Er hat drei Wohnsitze, einen in München, einen in Paris, einen in Saint-Tropez. Geboren wurde er in Zürich, als uneheliches Kind einer elsässischen Röntgenassistentin und eines italienischen Arztes, aufgewachsen ist er in Mayen in der Eifel. Weil seine Mutter als Näherin arbeitete, lebte er mehrere Jahre lang in einem katholischen Waisenhaus. Er spielte am Theater, hat mehr als 200 Film- und Fernsehrollen übernommen, die bekanntesten sind der Vater Matzerath in der »Blechtrommel«, der »große Bellheim« und der Klebstofffabrikant Haffenloher in »Kir Royal« (»Ich scheiß dich so was von zu mit meinem Geld«). In dem Gespräch soll es darum gehen, was bleibt. Im Mai geht Adorf noch einmal auf Tour, das Programm heißt »Zugabe« und ist eine Art Abschiedstournee.
SPIEGEL: Herr Adorf, wie sind Sie heute Morgen aufgewacht – mit Vorfreude auf den Tag?
Adorf: Na ja, ich würde sagen, wie immer. Ich jubele nicht und sage: Ah, Gott sei Dank, ich lebe noch. Ich gehöre nicht zu diesen Seniorenjublern. Das finde ich meistens lächerlich, aufgesetzt und falsch. Ich stehe auf, ohne ein wirklicher Muffel zu sein.
SPIEGEL: Fühlen Sie sich alt?
Eine einzigartige Karriere
Adorf: Es kommt jetzt immer häufiger vor, dass die anderen mich behandeln wie einen alten Mann. Das stört mich schon ein bisschen. Dass ich eine Stufe nicht sähe und die mir irgendwie helfen wollen.
SPIEGEL: Was ist Ihr gefühltes Alter?
Adorf: Ich würde das jetzt nicht festlegen wollen, ob ich mich wie 50 fühle oder wie 60. Ich bin identisch mit mir selber. Man wird alt, aber man merkt es selber nicht.
SPIEGEL: Haben Sie sich das Alter so vorgestellt?
Adorf: Ein bisschen erstaunt bin ich schon, wie es sich anfühlt. Als ich jung war, da wollte ich das Jahr 2000 erreichen. Ich bin 1930 geboren und dachte, wenn du 70 wirst, das ist schon was. Und dann sind es 80 Jahre geworden und jetzt noch mehr.
SPIEGEL: Gehen Sie noch zu Fuß zum Einkaufen?
Adorf: Ja. Ich nehme dazu diesen Wagen mit Tasche, da habe ich überhaupt kein Problem. Die Leute wundern sich dann.
SPIEGEL: Schwimmen Sie noch?
Adorf: So oft ich kann. Vor allem im Meer. Es wird aber weniger. Früher bin ich eine Stunde geschwommen. Dann eine halbe. Dann noch 20 Minuten. Jetzt ist es noch eine Viertelstunde.
SPIEGEL: Wird der Körper weniger?
Adorf: Die Muskelkraft schwindet. Aber die Muskeln sind komischerweise noch da. Ich habe nicht das Gefühl, dass meine Oberschenkel weniger geworden sind. Die sind immer noch muskulös, aber sie leisten nicht mehr dasselbe wie früher.
SPIEGEL: Werden die Mitmenschen einem mit zunehmendem Alter lästig?
Adorf: Also lästig werden mir die Leute nicht. Ich nehme auch das Autogrammeschreiben als schöne Pflicht auf mich. Es gibt Dinge, die ich immer so gehalten habe: höflich zu sein etwa gegenüber den Menschen, die einen mögen, die ins Kino gehen oder ins Theater und dafür Geld bezahlen.
SPIEGEL: Es gibt einen neuen Film über Sie, eine Biografie. Finden Sie das angemessen?
Adorf: Ich wäre nie auf die Idee gekommen, einen solchen Film zu machen. Man hat mich gefragt.
SPIEGEL: Gibt es Dinge, die im Alter verblassen? Namen, Gesichter, Textzeilen?
Adorf: Mein Langzeitgedächtnis ist relativ unbeschädigt. Ich mache meine Erinnerungen an meiner Arbeit fest, an meinen Filmen. 53, 58, 69, 85, ich weiß immer genau, was ich in den Jahren gedreht habe.
SPIEGEL: Sie haben beschrieben, dass Ihre Mutter gearbeitet hat, während Sie oben in der Mansarde auf sie gewartet haben.
Adorf: Ich war ja die ersten Jahre mit ihr in einem Zimmer zusammen, wo sie nachts nähte und wo ich auf der gemeinsamen Couch schlief; es gab kein Bett.
SPIEGEL: Kann man sich mit 88 noch an seine Kindheit erinnern?
Adorf: Je weiter sie zurückliegt, desto genauer bleiben die Erinnerungen da. Gerade aus der Kindheit sind das ganz kleine Dinge, die mich beeindruckt haben. Ich weiß ganz genau, was meine erste Erinnerung ist und was meine zweite.
SPIEGEL: Welches ist die erste?
Adorf: Ich sitze auf dem Topf, auf dem Nachttopf, und beobachte die Leute um mich herum. Eine andere Erinnerung: als ich vom Tod Hindenburgs erfuhr. Da wurden die Naziflaggen auf Halbmast gesetzt, das hat mich gewundert.
SPIEGEL: Da waren Sie knapp vier.
Adorf: Ich glaube, es war im August. Da habe ich gefragt, was ist da los? Warum sind die Flaggen auf Halbmast? Oder mein erster Theaterauftritt, wo ich den siebten Zwerg spielte. Ich trug eine rote Zipfelmütze und einen aus Verbandswatte geklebten Bart. Ich sollte eigentlich nur dasitzen und mit einer Kette spielen. Auf einmal kam mir dieser Bart in den Mund. Und in die Nase. Ich habe geweint, weil ich glaubte zu ersticken.
SPIEGEL: Als die Synagogen brannten, waren Sie acht.
Adorf: Die Synagoge brannte am Abend und in der Nacht. Ich war damals im Waisenhaus. Ich stand im Schlafsaal, am Fenster, wir Kinder hätten diesen Brand natürlich gern gesehen. Wir waren neugierig. Am nächsten Morgen gingen die anderen alle zur Schule. Die Saalschwester, die mich sehr mochte, kam zu mir, legte mir die Hand auf die Stirn und sagte: Du gehst mir heute nicht in die Schule, du hast Fieber. Dann habe ich mit der Schwester beobachtet, wie unten, aus dem Gefängnis gegenüber, die meist alten Leute auf Lastwagen geladen wurden. Die Schwester zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und weinte. Ich habe gefragt: Was sind das für Leute? Sie sagte, das sind Juden. Und ich fragte: Was haben die denn verbrochen? Dass sie Juden sind, sagte sie. Am Mittag kamen meine Kameraden aus der Schule zurück. Sie riefen: Guck mal hier, wir haben Kamellen und Schokolade aus den Judengeschäften. Wenn ich in die Schule gegangen wäre, wäre ich mitgegangen und hätte das Gleiche gemacht.
SPIEGEL: Ihren Vater kannten Sie bis dahin nicht. Hatten Sie Sehnsucht nach ihm?
Adorf: Überhaupt nicht. Er war abwesend, es gab ihn nicht. Die meisten Väter waren ja weg. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich der Einzige ohne Vater war. Ich habe ihn dann ja später getroffen, als ich nach Italien fuhr, weil ich Geld brauchte. Ich war eingeladen, am Studententheater in Zürich mitzuspielen, und wollte dort weiterstudieren. Dazu musste ich einen Scheck vorweisen, um mich immatrikulieren zu können. Die Schwester meiner Mutter riet mir: Geh doch mal zu deinem Vater. Der hat doch bisher nie etwas bezahlt.
SPIEGEL: Wie lang war die Begegnung?
Adorf: Zehn Minuten. Es lag auch daran, dass ich damals nicht Italienisch sprach, nur ein paar Brocken. Und er kein Deutsch.
SPIEGEL: Sie sprachen nur über Geld?
Adorf: Meine Tante hatte mir einen Brief geschrieben, an ihn gerichtet, in dem sie meine Situation erklärte. Er las den und sagte auf Italienisch: »È Lei?« – »Sind Sie das?« Dann stand er auf, ging raus, zehn Minuten später kam er mit einem Zettel zurück, mit der Adresse seines Schwagers, einem Anwalt. Der mache das Geschäftliche. Arrivederci! Ich war entlassen.
SPIEGEL: Wieso sind Sie Schauspieler geworden?
Adorf: Weil ich nichts anderes werden konnte. Man hatte damals nach dem Krieg keine Wahl. Ich hätte gern Medizin studiert. Aber es war völlig illusorisch, es gab den Numerus clausus; also konnte ich eigentlich nur Schauspieler werden.
SPIEGEL: Ein paar andere Berufe hätte es ja schon noch gegeben.
Adorf: Um ehrlich zu sein: Der Anlass, warum ich mich überhaupt für die Uni-Studentenbühne interessierte, war eine Kom-
militonin, die dort eine große Rolle spielte. Die verehrte ich. Das war der Grund, warum ich mich in diese Truppe eingeschlichen hatte. Ich hatte Bühnenbilder entworfen, Plakate gemalt und sogar die Schauspieler geschminkt.
SPIEGEL: Eine Mischung also aus Alternativlosigkeit und Zufall?
Adorf: In der Aufnahmeprüfung zur Schauspielschule wurde natürlich auch gefragt: Warum wollen Sie Schauspieler werden? Ich habe der Kommission gesagt, ich möchte gern möglichst schnell Geld verdienen. Ich hatte ja vorher malocht, am Bau und in den Bimsgruben im Rheinland. Ich dachte, das könnte noch ein bisschen einfacher gehen.
SPIEGEL: Sie haben viele Rollen gespielt, die jeder kennt. Auf welche schauspielerische Leistung sind Sie am meisten stolz?
Adorf: Stolz? Habe ich nie empfunden. Es gibt ein paar Rollen, da sage ich: Die sind gelungen. Für mich ist die Schauspielerei erst mal eine lustvolle Beschäftigung. Aber sie ist auch Arbeit. Das ist mein Handwerk. Ich habe nichts anderes gelernt.
SPIEGEL: Ist das Altern am Ende auch nur eine Rolle, die man diszipliniert und technisch sauber spielen muss?
Adorf: Ich denke nicht: Jetzt bist du alt. Oder jetzt müsstest du diese oder jene Erfahrung haben. Ich werde oft gefragt: Sind Sie weise geworden? Dann sage ich, ich weiß gar nicht, was das ist, weise. Man wird nicht weiser, man wird nicht gescheiter, man wird älter. Aus.
SPIEGEL: Haben Sie jemals im Leben um etwas kämpfen müssen?
Adorf: Das Wort kämpfen habe ich immer vermieden. Es gibt Anstrengungen, die ich unternommen habe. Aber ich musste nie kämpfen. Ich bin auch im Sport nie einer gewesen, der gesagt hat: schneller, höher, weiter. Diesen Ehrgeiz hatte ich nicht. Gute Arbeit machen, das wollte ich.
SPIEGEL: Haben Sie ein Ritual, bevor Sie auf die Bühne gehen?
Adorf: Es gibt natürlich im Schauspielerleben Regeln, an die man sich hält. Man nimmt den Hut ab, wenn man über die Bühne geht. Man pfeift nicht in der Garderobe. Es gibt viele Regeln in dem Beruf, die manchmal unsinnig scheinen. Aber man befolgt sie. Weil sie wie ein Korsett sind, eine Hilfe.
SPIEGEL: Ihr Programm heißt »Zugabe«. Worum geht es?
Adorf: Es ist im Grunde das, was ich immer gemacht habe. Im Musikbereich würde man sagen: Best of. Es ist eine Verbeugung vor dem Publikum, dem letzten, das ich live erlebe.
SPIEGEL: Sie haben gerade den Fernsehfilm »Alte Bande« gedreht. Entdecken Sie beim Spielen noch etwas Neues?
Adorf: Eigentlich nicht. Es ist ein bisschen der naive Versuch, eine Altersaktivität zu zelebrieren. Ich spiele jemanden, der so tut, als könnte er noch boxen. Ich weiß auch nicht, wie das ankommen wird.
SPIEGEL: Geht es in der Schauspielerei nicht genau darum: jemanden zu spielen, der man nicht ist?
Adorf: Auf jeden Fall. Ich habe nie mich selber spielen wollen. Es gibt ja Leute, die nur sich selber spielen können. Manfred Krug hat mir das mal gestanden. Bei mir war es immer so, dass ich Rollen spielte, um mich von mir zu entfernen. Das heißt auch: Ich habe mich bereichern wollen an den Rollen. An anderen Persönlichkeiten. Das ist das Lohnende für einen Schauspieler.
SPIEGEL: Heißt Spielen im Alter: Reduktion?
Adorf: Oft sagt man: Der große Schauspieler, der macht gar nichts. Was heißt das? Er macht nicht gar nichts, sondern er lässt einfach das Überflüssige weg.
SPIEGEL: Die Begründung, mit der man Sie auf der Schauspielschule aufnahm, 1953, lautete: Sie hätten »Kraft und Naivität«. Fühlen Sie sich gerecht beurteilt?
Adorf: Damals schon. Ich bin beim Vorspielen, kraftvoll, in den Zuschauerraum gestürzt, weil die Bühne so klein war. Und dass ich so naiv sein konnte, eine für mich gar nicht geeignete Rolle zu wählen – ich sehe es heute eher als ironische Bemerkung.
SPIEGEL: Sie sagen auch von sich: Ich will gar nicht wissen, wie ich funktioniere, wie ich gemacht bin. Ich bin’s einfach.
Adorf: Ich wollte nie Routine. Der Schauspieler Rudolf Platte hat mir mal gesagt: Bei 400 Vorstellungen fängt’s bei mir überhaupt erst an. Bei 400 Vorstellungen? Ich langweile mich nach 20. Deswegen habe ich ohne großes Bedauern mit dem Theaterspielen aufgehört, vor 15 Jahren.
SPIEGEL: Sie waren als junger Mann ein sehr körperlicher Schauspieler. War das auch Kraftmeierei?
Adorf: Ich war ja nie ein Schwarzenegger, ich war kein Muskelmann. Aber ich habe die Körperlichkeit schon bedient. Doch kraftmeierisch? Es gab ein paar Rollen, bei denen man gesagt hat: Jetzt hau mal auf die Pauke. Was ich dann wieder abgelegt habe, weil es mir nicht gefiel.
SPIEGEL: Einmal haben Sie sich beim Drehen an ein fahrendes Auto geklammert. Dafür mussten Sie doch trainiert sein.
Adorf: Ich war in einer relativ guten physischen Kondition, durch verschiedene Sportarten. Ich habe aber immer gewusst, wo meine Grenzen lagen.
SPIEGEL: Ab dem wievielten Take einer Szene werden Sie ungehalten?
Adorf: Ich war im Grunde immer ein folgsamer Schauspieler. Wenn der Regisseur sagt, ich will es zwanzigmal, dann habe ich es zwanzigmal gemacht.
SPIEGEL: Kann man mit 88 noch verliebt sein?
Adorf: Ich glaube, dass das Verliebtsein eine sehr jugendliche Angelegenheit ist. Sie verliert sich.
SPIEGEL: Wann ungefähr?
Adorf: Sehr schnell.
SPIEGEL: Um 50 herum?
Adorf: Viel früher. Verliebtheit gibt es nur in der Jugend. Ein paar Rückfälle, ja sicher.
SPIEGEL: Wie nennen Sie Liebe im Alter? Bewunderung? Kontinuität?
Adorf: Vertrauen. Verlässlichkeit. Zuneigung. Zu-Neigung: dass man jemandem zugeneigt ist. Und bleibt. Was also heißt, dass man sich nicht entfernt von jemandem. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Das Ende des Zwist-Daseins. Des Widerstands. Wenn man nicht mehr gegeneinandersteht, sondern merkt, wie man nebeneinandersteht. Und Zärtlichkeit. Die muss nicht abnehmen, vielleicht sogar zunehmen.
SPIEGEL: Sie haben Ihre Freundin Monique erst nach fast 18 gemeinsamen Jahren geheiratet.
Adorf: Das fand ich auch ganz gut. Es war unsere Jugend, in der wir noch ausprobierten. Beide.
SPIEGEL: Haben Sie gewartet, bis die Verliebtheit weg und die Liebe da ist?
Adorf: Die Verliebtheit war sicher nach ein paar Jahren nicht mehr da. Aber das Gefühl, der Glaube, dass man zusammengehört – dass es die Richtige ist; dass man nicht mehr suchen muss –, das gibt’s dann schon.
SPIEGEL: Wenn Sie eine Frau wären: Wären Sie gern mit sich selbst verheiratet?
Adorf: Das weiß ich jetzt nicht. (Pause) Meine Frau ist zufrieden, glaube ich.
SPIEGEL: Macht eine Affäre glücklich? Oder eher traurig?
Adorf: Ich sage nicht, dass die Versuchungen nicht da waren. Aber dass man sich über die Ehe hinwegsetzt? Nein, da hat man schon eine gewisse Verantwortung. Auch vor sich selber.
SPIEGEL: Für Sie heißt Ehe eben: Ehe.
Adorf: Ich nehme sie zumindest ernst. Die jungen Paare lassen sich heute sehr oft sehr schnell scheiden. Ich habe immer gesagt: Nach dem ersten Seitensprung fängt eine Beziehung erst an, und man sollte denken: Vielleicht habe ich was falsch gemacht.
SPIEGEL: Gibt es, aus Ihrer Zeit vor der Ehe, Verführungstricks, die immer funktioniert haben?
Adorf: Eher nicht. Es passiert halt. Was selten war übrigens.
SPIEGEL: Empfinden Sie es als Erleichterung, dass es mit dem Sex im Alter irgendwann weniger wird?
Adorf: Das ist nun mal so. Ich bin keiner, der sagt, das darf doch nicht wahr sein, und dann zu Viagra greift. Es wird weniger und weniger und hört auf. Das verursacht bei mir keine Depressionen.
SPIEGEL: Sie sind mit Ihrer Frau seit mehr als drei Jahrzehnten verheiratet. Wer hat im Alter mehr von wem gelernt?
Adorf: Der gegenseitige Einfluss ist gar nicht so groß.
SPIEGEL: Man altert eher allein?
Adorf: Man altert zusammen, aber man kommuniziert nicht laufend über das Alter. Ein bisschen vielleicht, wenn meine Frau sagt: Halt dich gerade! Aber dass man richtig eingreift in das Leben des anderen – nein.
SPIEGEL: Sie haben ja ein paar Semester Philosophie studiert. Haben Sie herausgefunden, was das Leben von uns will?
Adorf: Wenn wir uns als Teil der Schöpfung sehen – dann würde ich sagen, wir haben einen Schöpfungsauftrag: Leben erhalten, Leben weitergeben. Wenn wir uns aber als Mitglied einer Gemeinschaft sehen, dann verlangt das Leben, das Leben miteinander, dass wir Regeln einhalten. Und dann gibt’s ja noch die andere Seite: Was wollen wir vom Leben?
SPIEGEL: Was macht Sie glücklich?
Adorf: Was man als Glück bezeichnen könnte, wird im Alter weniger. Man ist dann mit »Glückchen«, also mit kleinen Glücksmomenten, zufrieden.
SPIEGEL: Welche sind das?
Adorf: Irgendjemand hat gesagt: guter Schlaf und gute Verdauung.
SPIEGEL: Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Tochter?
Adorf: Sehr gut. Wir sehen uns oft. Ich habe einen Enkel.
SPIEGEL: Sie waren viel unterwegs, auch als Sie schon eine Familie hatten.
Adorf: Ich bin vielleicht auch kein guter Vater gewesen. Obwohl Stella das bestreitet. Ich war ein abwesender Vater.
SPIEGEL: Würden Sie Ihr Leben als satt bezeichnen?
Adorf: Satt finde ich schrecklich. Ich möchte nicht satt sein. Satt kommt ja vom Lateinischen: satis, das heißt genügend. Satis, ja. Aber satt nicht. Satt ist mir zu vollgefressen.
SPIEGEL: Geht man leichter, wenn das Leben genügend war?
Adorf: Daran denke ich im Moment nicht.
SPIEGEL: Sie denken nicht an den Tod?
Adorf: Ich denke an den Tod, natürlich. Er ist für mich unausweichlich. Aber für mich ist der Tod eine Tatsache. Worüber man sich Gedanken macht, ist das Sterben. Wie sterbe ich?
SPIEGEL: Wie oft am Tag?
Adorf: Manchmal oft, manchmal gar nicht. Ich denke an das Sterben meiner Mutter, das sehr schwer war. Da denke ich dann: Hoffentlich passiert dir das nicht. Ein Leben im Rollstuhl, eine schwere Krankheit.
SPIEGEL: Und im Alltag? Es gibt Dinge, die tun Sie zum letzten Mal.
Adorf: Ich habe mal einen kleinen Aufsatz geschrieben, »Das letzte Mal«. Das ist der Anfang meines Programms »Zugabe«. Dieser Gedanke, vielleicht wirst du das nicht mehr erleben, kommt erst im Alter. Als ich vor einem Jahr in Capri war, da dachte ich: Hier wirst du jetzt nicht wieder hinkommen. Ich habe an ein Buch gedacht, das ich mal sehr mochte, von Italo Svevo: »Zenos Gewissen«. Dieser Zeno will sich auf Anraten des Arztes das Rauchen abgewöhnen. Da es ihm offenbar nicht gelingt, schreibt er immer wieder in sein Tagebuch: »L.Z.«, »Letzte Zigarette«. Und er sagt dann: Das Gefühl, dass diese letzte Zigarette die letzte ist, macht sie besonders intensiv. In Capri habe ich diesen letzten Aufenthalt als besonders empfunden, weil ich alles vormals Erlebte viel bewusster genossen habe.
SPIEGEL: Wie viel Ihrer Zeit ist Rückschau?
Adorf: Ich hatte immer was dagegen, zurückzuschauen und nachzudenken und mich zu erinnern. Ich wollte keine alten Filme von mir sehen. Ich war nie zurückgewandt. Immer nach vorn; weiter. Gut, das Nachvornschauen ist jetzt auf eine sehr kurze Distanz beschränkt.
SPIEGEL: Wie viel Zeit verbringen Sie damit, Pläne zu machen?
Adorf: Das habe ich noch nie gemacht. Es gibt Pianisten, die fünf Jahre vorher wissen, dass sie am 5. April in Buenos Aires die »Appassionata« spielen – ich habe nie geplant, auch früher nicht. Ich habe immer gedacht, dass wir nicht so viel Einfluss haben auf unser Leben, wie wir denken. Das Leben macht das schon. Mit uns, nicht umgekehrt.
SPIEGEL: Gibt es nie Frust?
Adorf: Was ich nicht mag, davon habe ich sehr genaue Vorstellungen. Aber dass es zum Frust, zur Belastung wird: nein.
SPIEGEL: Gibt es einen Ort, an dem Sie beerdigt werden wollen? Saint-Tropez? Italien?
Adorf: Mir persönlich ist das egal. Meine Mutter wollte eine Seebestattung. Ich selber fand das immer eine ganz gute Option, ich glaube an nichts nachher. In meiner Heimatstadt bin ich Ehrenbürger, die würden mir sicher ein schönes Grab herrichten. In Saint-Tropez ist ein sehr schöner Friedhof am Meer, aber der ist so besetzt, dass man da gar keinen Platz findet. Zuletzt wurde mir angedeutet, dass München genau das Richtige für mich wäre – der Bogenhausener Friedhof, wo viele meiner Kollegen liegen.
SPIEGEL: Für Sie ist der Tod: Licht aus?
Adorf: Ende.
SPIEGEL: Haben Sie sich bis heute etwas Eifelbauernhaftes bewahrt?
Adorf: Früher, wahrscheinlich von meiner Mutter stammend, gab es den Grundsatz: Auf dem Boden bleiben. Und sich nicht zu wichtig nehmen. Wichtig schon, aber nicht zu wichtig. Was meine Herkunft, mein Herkommen angeht, da spielt Süditalien gar keine Rolle, obwohl ich versucht habe, Italiener zu werden. Ich habe 40 Jahre in Italien gelebt. Aber das ist mir nie gelungen. Für mich ist es immer die Eifel geblieben.
SPIEGEL: Was bleibt?
Adorf: Staub.
SPIEGEL: Herr Adorf, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Gespräch führten die Redakteure Hauke Goos und Barbara Hardinghaus.
Fuente: https://magazin.spiegel.de/SP/2019/18/163618659/index.html
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