Pasqualina Perrig-Chiello ist emeritierte Professorin für Entwicklungspsychologie der Lebensspanne an der Universität Bern. Ihre Forschungsschwerpunkte fokussieren Wohlbefinden und Gesundheit, Persönlichkeits- und Geschlechtsrollenentwicklung im mittleren und höheren Lebensalter. Sie hat zahlreiche Publikationen zu diesen Themen verfasst, so etwa »In der Lebensmitte. Die Entdeckung der mittleren Lebensjahre« oder »Wenn die Liebe nicht mehr jung ist. Warum viele langjährige Beziehungen zerbrechen und andere nicht«.
Perrig-Chiello: In der Wissenschaft reden wir ungern von der Midlife-Crisis, weil es sich nicht um eine einzelne, fest umrissene und kurze Krise handelt. Eher sind es multiple Krisen, die sich gehäuft in den Jahren ab Anfang vierzig bis Ende fünfzig zeigen. Über die mittleren Jahre würde ich deswegen formulieren, dass sie krisenanfällig sind. Das Wohlbefinden und die psychische Verfassung sind nachweislich davor und danach höher. Das ist ein Befund, der sich über Ländergrenzen hinweg stabil zeigt. Auch die Burn-out-Raten erreichen in den mittleren Lebensjahren einen Höhepunkt, und Ende vierzig liegt das häufigste Scheidungsalter. Scheidungen wiederum sind kein Sonntagsspaziergang. Es kumuliert einiges, sodass wir von einer Zeit mit chronischem Stress sprechen dürfen.
SPIEGEL: Welche entwicklungspsychologische Leistung müssen wir in der Lebensmitte konkret erbringen?
SPIEGEL: Ist das nicht ein Klischee?
Perrig-Chiello: Ich verstehe, es klingt ein wenig so, aber unsere Forschungen kommen nun mal zu diesem Ergebnis. Und auch Partnerschaftsplattformen bestätigen: Männer wollen jüngere Frauen kontaktieren. Frauen sagen, einen Loser will ich nicht! Als ich zur späten Scheidung und Wiederverpartnerung nach der Lebensmitte geforscht habe, kam heraus: Frauen wünschen einen Mann mit Bildung – er soll kultiviert sein. Ob die Frau gebildet ist, war den Männern auf Partnersuche in der zweiten Lebenshälfte egal. Sie sollte frisch, schön und gesund sein. Ein erfolgreicher Mann ist hingegen sowohl für Gleichaltrige als auch für jüngere Frauen attraktiv. Es ist bis heute ungerecht, welche Rollen wir Frauen zugestehen und wie wir sie entwerten.
SPIEGEL: Sie erkennen zu spät, was nicht mehr passt, sodass dann nur noch der radikale Neustart hilft?
Perrig-Chiello: Dazu kommt, dass diese Neigung zu radikalen Brüchen mit traditionell männlichen Persönlichkeitseigenschaften korrespondiert. Viele Männer pflegen den Anspruch, alles unter Kontrolle zu haben. In den mittleren Jahren merken sie, dass ihnen sehr viel Kontrolle entgleitet – sie werden vergesslich und der Körper macht nicht mehr alles mit, von den Gefühlen ganz zu schweigen. Daraufhin verstärken manche den Kontrollzwang als Gegenreaktion gegen den Eindruck, nicht mehr alles im Griff zu haben. Eines Tages geht es förmlich nicht mehr. So kommt es oft zu überraschenden Extremreaktionen.
SPIEGEL: Der Mann in der Midlife-Crisis, der offenbar besonders angezählt ist, trifft heute allerdings auf die Frauengeneration #MeToo, die über alte weiße Männer und deren Imponiergehabe eher lacht. Wird er dadurch noch verletzlicher?
Perrig-Chiello: In der Tat ändert sich der gesellschaftliche Kontext, in dem die Midlife-Crisis abläuft, gerade stark. Ich erkenne allerdings zwei Tendenzen. Die eine ist der verunsicherte Mann, der sich durch selbstbewusste und gut ausgebildete Frauen der #MeToo-Ära irritieren lässt und noch tiefer in seine Sinnkrise gerät. Auf der anderen Seite können wir eine Retraditionalisierung beobachten, die sich beispielsweise in einer Machokultur als Gegenreaktion zur Heterogenität und Pluralität von Werten und Geschlechterrollenvorstellungen in der heutigen Gesellschaft äußert.
SPIEGEL: Verändert sich die Midlife-Crisis durch den Zeitgeist und dadurch, dass Frauen heute immer älter sind, wenn sie Kinder bekommen?
Perrig-Chiello: Gewisse Herausforderungen werden einfacher. Einiges wird aber auch schwieriger. Eine Frau hat dann vielleicht ein junges Kind und alte Eltern. Da ist sie noch viel mehr in der stressigen Sandwich-Position der Generationen gefangen.
SPIEGEL: Hilft Humor, um durch die Mitte des Lebens zu gelangen?
Perrig-Chiello: Die Positive Psychologie spricht von Charaktereigenschaften, die die Resilienz eines Menschen fördern. Menschen mit Humor etwa können in der Regel besser mit dem eigenen Altern umgehen. Es erfolgt eine Selbsttranszendenz, das Ego wird überstiegen. Der Entwicklungspsychologe Erik Erikson sagt, die Aufgabe der mittleren Jahre sei, nicht weiter egozentrisch auf sich zu blicken, sondern auf die nachfolgende Generation: Was kann ich weitergeben? Es geht darum, nicht nur die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen, sondern auch offen zu sein für jene derer, die nach uns kommen. Wer lediglich »Mehr Ich« und mehr Selbstoptimierung lebt, vereinsamt. Der reife Fokus liegt darauf, Sinn und Spiritualität in sich zu finden und intergenerationell etwas weiterzugeben.
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